Erkenntnis (Teil 1)

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An einem Freitagabend stieg ich mit gemischten Gefühlen am Bahnhof Gesundbrunnen in den RE 4364 Richtung Rostock. Aus Protest gegen die Gesamtsituation verzichtete ich darauf, mir einen Fahrschein zu kaufen. Der Zug war sowieso voll wie eine Kompanie Russen und die Fahrscheinkontrolleure erfahrungsgemäß zu übergewichtig, als dass sie sich freiwillig durch die Menge quetschen würden.

Außerdem…was hatte ich schon noch zu verlieren?

Als ich in Fürstenberg ankam, war Robert natürlich noch nicht da. Ich nahm es mit Fassung. Oftmals dachte ich zurück an die Zeit, in der ich meinen Freund Robert kennengelernt hatte. Kaum zu glauben, dass sich dieser cholerische und missmutige Zeitgenosse innerhalb weniger Jahren in Little Ghandi verwandelt hatte. Man stelle sich mal George W. Bush als jointrauchenden Hippiebruder vor. Ungefähr so war das.

Robert kam mit einem Affenzahn auf den Bahnhofsvorplatz gerast. Er hatte das Fenster seines Bullys heruntergekurbelt und wippte entspannt im Zwischenbeat eines Reggae-Sounds.

„Eyyy!“, rief er, als er neben mir zum Stehen kam.

„Hi, mein Freund! Alles gut?“, antwortete ich und stieg ein.

In diesem Moment packte mich Euphorie und eine riesige Vorfreude auf das Wochenende übermannte mich. In meinem Heimatort fand erstmalig das 3000°-Festival statt. Doch das Beste war: Robert besaß ein Tipi auf dem Festivalgelände und hatte es sogar geschafft, Majo und mich als Duo im Line-Up unterzubringen! Wie geil war das denn bitte?!

Das Kollektiv um 3000° genießt in meiner Heimat so etwas wie Legendenstatus. Es ist dort gar nicht mehr wegzudenken. Seit Anbeginn meiner DJ-Zeit sammelte ich die Platten von Acker Records, deren ominöse Namen sich immer auf Dörfer in der Nähe meines Heimatortes bezogen und mich davon träumen ließen, irgendwann einmal eine Feldberg EP herauszubringen. Jetzt also auf diesem Festival spielen zu dürfen, fühlte sich an, als hätte Jürgen Klopp mich persönlich zum gemeinsamen Kicken in das Westfalenstadion eingeladen!

Spätestens nach Passieren des Feldberger Ortseingangsschilds waren die ganzen schlechten Gedanken der letzten Monate wie weggeblasen und wurden durch die altbekannte positive Nervosität ersetzt, die alle meine Gedanken auf den bevorstehenden Gig fokussierten.

„The thrill is not gone“, dachte ich.

Ich erkannte mein Dorf nicht wieder: Bürgersteige bevölkert von einem bunten Menschentreiben, das Feldberg eine ungeahnte Unbeschwertheit bescherte. Offensichtlich hatte man hier die Gummibärenbande mit der Mission ausgesetzt, eine Riesenparty zu schmeißen!

Die Rahmenbedingungen waren super. Unsere Playtime war für die Nacht von Samstag auf Sonntag angesetzt. Und so hatten wir wir tatsächlich mehr als 24 Stunden, um eine gehörige Portion Festivalspirit zu atmen.

Ein Festival im Heimatort kann nur großartig sein. Das ganze Dorf kommt ja quasi vorbei. Es ist halt wie ein Dorfbums in cool! Alle waren da: Fachmann – oder, wie ich immer sage, Snoop Dogg in weiß –, Buko aka der Checker, meine Schwester, Roberts Schwester und sogar meine Mutti. Alle schauten vorbei, um sich das größte Spektakel Feldbergs seit der Wasserski-WM anzusehen. Es ist ein einzigartig schönes Gefühl, wenn man die Rentner aus dem Dörp händchenhaltend, augenfunkelnd, und Köpfe verrenkend über das Gelände spazieren sieht. Das hat eine ganz spezielle Romantik. Genau so möchte ich später auch mal sein!

Ich tanzte den gesamten Freitagabend – erst benebelt vom Glück, später auch vom Alkohol. Ich erinnere mich gar nicht mehr, was en détail passierte, doch an das gute Gefühl, daran schon! Es hätte ewig so weitergehen können.

Kennst du diese magische Trance, wenn Du zusammen mit 3000 anderen Leuten den beschissenen Alltag Alltag sein lässt und einfach feierst? Diesen Nervenkitzel, wenn die Party auf dem absoluten Höhepunkt ist? Wenn jeder um dich herum dein bester Freund sein könnte? Diesen Augenblick, in dem du dich zur Vollkommenheit fallenlässt und nicht an gestern, heute oder morgen denkst? Den Tanz auf Messers Schneide, kurz vor dem Kontrollverlust, exakt an der Grenze zwischen bewusst und unbewusst? Das ist für mich das Größte, was es gibt auf der Welt!

Allerdings…eine Sache vermochte es, das alles noch zu toppen: Wenn Coco nur dabei gewesen wäre!

Ich hatte Coco ein paar Wochen zuvor auf dem “Herrlich Tanzen”-Festival über Susi, Roberts kleine Schwester, kennengelernt. Von da an dachte ich ständig an sie. Sie ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. – Was ich ihr natürlich nicht zu sagen über’s Herz brachte! Ich hatte zwar immer schon eine große Klappe… aber was Gefühle angeht… puh… da bin ich ein ganz schöner Amateur gewesen.

Umso mehr haut euch vom Sockel, was sich am Samstagmorgen ereignete.

Ich öffnete die Augen und glaubte, Bud Spencer hätte mir direkt in die Fresse gehauen. Meine Körperteile machten nicht den geringsten Eindruck, sich bewegen zu wollen. Im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich nicht alleine zu sein schien! Zu meiner Rechten lugte ein Kopf unter der Decke hervor. Ich war nackt!

Verdammt! Was war passiert?

Ich entschloss mich, die Augen wieder zu schließen und mein Gehirn mit der Rekonstruktion des letzten Abends zu beauftragen.

Noch bevor meine Synapsen ein Ergebnis zu vermelden hatten, spürte ich, wie sich ein unbekanntes Etwas unter meiner Decke bewegte, dann ein fremdes Paar Lippen auf meinen, gefolgt von einem zärtlich geflüsterten „Guten Morgen“.

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen.

„Coco“, flüsterte ich.

Was war ich nur für ein Glückspilz! Fast den restlichen Tag vergrub ich mich mit Coco im Zelt. Wir hatten uns viel zu sagen und sprachen wenig. Erst am Abend verließen wir eng umschlungen unsere Zuflucht und mischten uns unter das Volk. Bis zu meinem Gig sollte sie mir nicht mehr von der Seite weichen.

Unser “Kiebelka & Frost”-Auftritt setzte dem Ganzen dann die Krone auf. Beflügelt von den Ereignissen hatte ich beim Auflegen so viel Spaß wie nie zuvor. Als ich die Bühne verließ, versuchte ich Coco wiederzufinden, doch keine Spur von Ihr: niemand meiner Freunde hatte sie gesehen; niemand wusste, wo sie steckte.

Ich war irgendwie traurig. Naja, ich war auch gleichzeitig glücklich, aber ich hatte Angst davor, dass sich meine Zeit mit Coco wie ein süßer Sommernachtstraum verflüchtigen würde. Deshalb versprach ich mir selbst, sie sofort am Montag anzurufen. Vorsorglich besorgte ich mir sogleich ihre Nummer von Susi.

Nach dieser wilden Nacht half ich Robert am Sonntagnachmittag beim Tipi-Abbau. Und wir ließen ein paar letzte Stunden das 3000˚-Festival in meiner Heimat ausklingen, den Bär nochmal verückt steppen. Coco on my mind…

Am Montagmittag wachte ich in Roberts Ferienwohnung auf. Das Klingeln meines Handys holte mich aus dem Schlaf. „Coco“, informierte mich das Display. Ich atmete einmal kurz durch und ging ran.

„Heey! Ich wollte dich auch anrufen!“, sagte ich.

„Du hast doch noch die ganze Woche frei, oder? Hast du Lust auf ein Abenteuer?“, ertönte eine verführerische Stimme am anderen Ende der Leitung.

Was für eine Frage! Selbstverständlich hatte ich Lust auf ein Abenteuer!

„Logisch! Was hast du vor?“ fragte ich.

„Lass dich überraschen!“

Keine halbe Stunde später stand sie vor Roberts Tür.

„Hast du deine Sachen gepackt?“, wollte sie wissen.

„Nein, wieso?“

„Die wirst du brauchen“, entgegnete sie mir mit einem unwiderstehlichen Augenzwinkern.

15 Minuten später stiegen wir in das Auto und fuhren los. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin mich diese Reise führen würde.

TO BE CONTINUED…

Wie es weiterging? …Kannst Du hier nachlesen.

Die Krise

Zeitsprung! … was 10 Jahre früher geschah…kannst Du hier nachlesen.
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Als ich glaubte, es könnte gar nicht besser für mich laufen, ging alles ganz schnell.

Wir befanden uns gerade mit Robert in unserer WG in einem Meeting und brainstormten, wie sich das für Berliner Start-Ups gehörte, als mein Handy klingelte. Die unbekannte Nummer auf dem Display war mir schon lange nicht mehr unbekannt. Allerdings war ich mir nicht sicher, wer sich am anderen Ende der Leitung verbarg. Ich wollte es auch nicht herausfinden. Ich hasse unbekannte Nummern! Ich rufe doch auch keine wildfremden Leute an! Jedenfalls spürte ich, dass sich dunkle Wolken am Horizont zusammenbrauten. Es war ungefähr das Gefühl, das man hat, wenn man ohne Fahrschein in der Tram sitzt und die Kontrolleure zusteigen: Klar, ich weiß von Anfang an, dass ich keinen Fahrschein habe. Doch erst mal tue ich so, als würde ich nach meinem Fahrschein suchen, genauso wie die ganzen anderen Idioten ohne Fahrschein es tun, weil sie irgendwie darauf hoffen, es würde ein Wunder geschehen und die Aufmerksamkeit woanders hinlenken. So ähnlich verhielt es sich mit dieser unbekannten Nummer auch.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte Daniel.

„Nee, ich ruf später zurück.“

„Geh doch ruhig ran, wir haben Zeit“, sagte Olli.

Vielleicht war das ein Omen. So etwas soll‘s ja geben. Ich verließ also leicht angesäuert den Raum und ging vorsichtig ran.

„Ja, hallooo?“ sagte ich in den Hörer.

„Guten Tag, Herr Frost. Hier ist Miriam Punz von der Firma Itelscore.“

Eine süße Stimme hatte Sie schon mal.

„Sie haben bisher auf keinen unserer Briefe reagiert. Ich rufe sie an, um Ihnen mitzuteilen dass sie noch zwei Wochen haben, um ihren Studienkredit zurückzuzahlen, bevor wir weitere rechtliche Schritte gegen sie einleiten.“

Wow. Das fühlte sich an, als hätte dich deine Traumfrau beim ersten Date über den monströsen Leberfleck auf deiner Backe aufgeklärt.

„Ähh, wie bitte? Auf einmal? Ich zahl’ doch in Raten. Wie viel ist das denn?“, stotterte ich.

„Im Moment sind wir bei einem ausstehenden Betrag von knapp 12.000 Euro.“ Ich schluckte. „Nach Ende Ihres Studiums wurde die Rate wie vereinbart erhöht, doch Sie sind Ihrer Zahlungsverpflichtung bisher nicht nachgekommen.“

Fuck.

„Heißt das, ich hab jetzt einen Schufa-Eintrag oder sowas?“, fragte ich zögerlich. „Ja, einen negativen.“

Plötzlich wurde mir klar, dass die zuckersüße Stimme am anderen Ende der Leitung nur als Tarnung für ein Monster fungierte, welches gekommen war, um mir mit voller Wucht einer Abrissbirne in die Eier zu treten. Als ich zurück in das Meeting kehrte, muss ich einen erbärmlichen Eindruck gemacht haben. Ich fühlte mich wie Falschgeld; wie ein Astronaut im Boot. Der Kummer schien mir in fett gedruckter Schrift vom untalentiertesten Knasttätowierer der Welt auf die Stirn tätowiert worden zu sein.

„Was ist denn los?“, fragte Robert.

Nachdem ich erzählt hatte, was passiert war, erfüllte uns eine kollektive Trauer. Keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Deshalb war ich froh, als Robert sich verabschiedete, um zurück nach Feldberg zu fahren. Auch Olli machte sich kurze Zeit später auf den Weg zu seiner Freundin, seinem Schnuffel. Alleine war ich dennoch nicht. Den Abend verbrachten Daniel und ich damit, uns anzuschweigen und quasi wortlos zu betrinken.

„Den Kredit können wir jetzt vergessen, oder?“, fragte ich Daniel.

„Mhh. Die Finanzplanung ist für drei konzipiert. Wir müssen mit Herrn Wuali sprechen“, sagte er.

Lange Rede, kurzer Sinn – als wir am Tag darauf zu unserem Businesscoach Herrn Wuali gingen und ihm erzählten, was passiert war, schaute der uns an, als hätten wir Vertretern der Tea-Party-Bewegung intime Urlaubsfotos unserer iranischen Freunde präsentiert. Schließlich waren es nur noch zwei Wochen bis zur geplanten Kreditaufnahme! Es gab nun drei Möglichkeiten. Entweder sorgten wir für die Löschung des Schufa-Eintrages, wir schnitten den Finanzplan auf zwei Gesellschafter zu (was bedeutete, dass ich künftig auf Rechnung arbeiten müsste) oder wir verzichteten komplett auf den Kredit.

Beim darauffolgenden Gespräch mit Olli beschlossen wir, dass ich vor der Kreditaufnahme offiziell aus der Firma austrete. Als wären wir zu dritt mit einem riesigen Fallschirm aus dem Flugzeug gesprungen und hätten während des Fluges bemerkt, dass ich der Fettsack bin, der für das Übergewicht verantwortlich ist: Wir waren am Boden zerstört. Am nächsten Tag wachte ich mit Neurodermitis am ganzen Körper auf. Meine Haut brannte wie die Hölle und auch die nächsten Wochen brachten keine Besserung. Nicht nur, dass ich aussah wie ein schlecht gelaunter Streuselkuchen mit Juckreiz – die nächste Hiobsbotschaft ließ auch nicht lange auf sich warten.

Nach einem Streit mit Daniel stieg auch Olli aus der Firma aus. Bye bye, Kredit. Zwar trennten wir uns im gegenseitigen Einverständnis und waren auch gewillt, die Freundschaft zu erhalten, doch immerhin hieß das für Daniel und mich ein Drittel mehr Arbeit; mehr noch für mich. Denn neben der Firma kümmerte ich mich um mein DJ-Projekt und hatte ständig Gigs, die ich um jeden Preis absolvieren wollte. Die Firma verlangte von mir hundertprozentigen Einsatz, die Musik brauchte seine Zeit und die Schulden, die ich seit meiner Studienzeit angehäuft hatte, manifestierten sich in Form von dutzenden ungeöffneten Briefen auf meinem Schreibtisch. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Einen solchen Druck habe ich in meinem bisherigen Leben noch nicht gekannt. Ich verfiel in eine Bewegungsstarre, wie paralysiert. Mein Körper ließ mich spüren, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich bekam bald golfballgroße, eitrige Auswüchse an Kopf und Bein und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

Als ich mit meinen Beschwerden zum Arzt ging, stellte dieser fest, das ich seit meiner Studienzeit nicht mehr ordnungsgemäß versichert war und die Kosten für meine Behandlung selbst tragen müsste. Wenn selbst der Arzt dir in der Not den Mittelfinger zeigt… Ich kam mir vor wie das ärmste Würstchen der Welt, das einsam im kalten Wurstwasser herumbaumelte. Es schien ausweglos. Ich verbrachte die Abende damit, mich regelmäßig zuzudröhnen, um möglichst nicht über meine Situation nachdenken zu müssen.

Da wir in Arbeit erstickten, mühte sich Daniel, Abhilfe zu finden und bald darauf kam einmal in der Woche Bia zur Unterstützung. Sie arbeitete mittlerweile für Ableton und managete nebenher ein Center für Künstleraufbau in Kreuzberg. Nun war sie auf der Suche nach einem neuen Wirkungsbereich. Auch wenn sie uns Arbeit abnahm, erhöhte dies noch einmal den Druck auf mich, da nun ein „Fremder“ uns bei der Arbeit zusah. Da mochte man sich natürlich von der besten Seite zeigen – gar nicht so einfach mit einem riesigen Eiterpickel in der Fresse.

Eines Abends, es muss im Mai 2012 gewesen sein, heulte ich mich während eines Gesprächs mit Robert am Telefon aus. Die Krise verfolgte mich nun schon seit vier Monaten und war dabei, sich zur handfesten Persönlichkeitsstörung zu entwickeln.

„Alter, du musst einfach mal raus aus eurer Bude! Mach’ mal ein bisschen Urlaub. Komm’ zu mir. Kannst in der Ferienwohnung pennen“, sagte Robert.

Da mir ohnehin nichts besseres einfiel, klärte ich alles mit Daniel ab und fuhr eine Woche später in meine Heimat Feldberg zurück…

TO BE CONTINUED…

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